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Objekt des Monats September 2023 - Irene Vallejo: „Papyrus: die Geschichte der Welt in Büchern“

Buch des Monats September - Irene Vallejo: „Papyrus: die Geschichte der Welt in Büchern“
Buch des Monats September - Irene Vallejo: „Papyrus: die Geschichte der Welt in Büchern“

In einem Video bezeichnet die Autorin selbst ihr umfangreiches Werk als ein Experiment. Dieses beginnt in der Antike bei Alexander dem Großen, welcher nicht auf seine Ausgabe der „Illias“ verzichten konnte, und reicht bis zum Untergang des Römischen Reiches. Dennoch gibt es Ausflüge über „schwarze Schmetterlinge“ bis in die Gegenwart.

Doch was macht dieses Buch zu einem Experiment? Laut Irene Vallejo besteht es darin, dass sie Fakten mit Lebensläufen verknüpft und Verbindungen zu Literatur und Film herstellt.

In einer Bibliothek oder zu Hause, nach der Lektüre, stellt sich die Frage, an welcher Stelle wird das Buch ins Regal gestellt? Während es sich in einer Bibliothek nach der Aufstellungssystematik richtet, gibt es zu Hause völlig unterschiedliche Kriterien. Manche haben gar kein System, andere sortieren nach Farben und einige nach dem Genre zum Beispiel Sachbuch, Roman oder Krimi. Gehört man zu denjenigen, welche ihre Bücher entsprechend dem Genre vorsortieren, ist es in diesem Fall nicht eindeutig. In diesem Experiment verschwimmen die Grenzen zwischen den Genres.

Irene Vallejo nimmt die Lesenden mit in eine längst vergangene Zeit und lässt sie an der Geschichte der Entstehung des Buches sowie den Personen und dazugehörigen Dingen, beispielsweise die Erfindung des Alphabets, teilhaben. Die Lesenden nehmen an der Entstehung der ersten Bibliothek teil, sie lernen den ersten Bibliothekar und Buchhändler kennen. Obwohl den Lesenden sehr viele Informationen vermittelt werden, entsteht nicht der Eindruck, ein „trockenes“ Sachbuch in den Händen zu halten. Der Schreibstil der Autorin wirkt, als wäre sie dabei gewesen, und lässt die Geschehnisse vor den Augen der Lesenden entstehen. Dadurch entsteht, trotz der Informationsdichte, der Eindruck, man würde einen Roman lesen. Ihre Darstellung des Museums sowie des Leuchtturms von Alexandria basiert auf den Berichten des griechischen Geschichtsschreibers und Geografen Strabon. Sie ermöglicht eine Vorstellung davon, wie diese Gebäude damals ausgesehen haben könnten.

Erstaunlich und manchmal unkonventionell sind die Brücken, welche Irene Vallejo aus der Antike zu bekannten, erlebten, gesehenen oder gelesenen Dingen baut. So vergleicht sie den Aufbau des Internets mit einer Bibliothek, wobei die URL der Signatur eines Buches entspricht.

Sie verbindet den „Herr der Ringe“ mit dem Traum von Alexander dem Großen, für immer in Erinnerung zu bleiben. Als Bezugspunkt dient ein Gespräch, welches Sam mit Frodo führt. An dieser Stelle fragt Sam, ob Frodo sich vorstellen könne, dass sie später in einer Geschichte erwähnt werden. Es ist der Wunsch des Eingehens in die Literatur, welcher dazu führt, unvergessen zu bleiben. Diese Stelle sei nur ein Beispiel. Es gibt unzählige Verweise zu anderen Büchern oder Filmen.

Auch wenn der Zusammenhang zwischen den Helden aus „Herr der Ringe“ und Alexander dem Großen zum Schmunzeln einlädt, gibt es auch politische Bezüge, welche vielen Lesenden noch bekannt sein dürften. Nach der Beschreibung der dritten Zerstörung der Bibliothek von Alexandria schließt sich ein Kapitel an, welches sich mit dem Hass auf Bücher befasst und die Bedeutung ihrer Zerstörung beinhaltet. Als eine bekannte Verbindung wählt Irene Vallejo die Zerstörung der Nationalbibliothek in Sarajewo im August 1992. Sie gibt die Darstellung dieser Nacht und der nächsten Tage durch unterschiedliche Personen wieder. Die Asche der zerstörten Bücher und Dokumente, welche sich über der Stadt verteilte, bezeichneten die Einwohner als „schwarze Schmetterlinge“.

Der Eindruck ein Sachbuch zu lesen ist besonders an den Stellen ausgeprägt, an denen Irene Vallejo die gängigen Hypothesen vorstellt, welche diskutiert werden. Während Strabon in seinem Bericht das Museum von Alexandria beschreibt, fehlt eine Beschreibung der Bibliothek. Auf die Frage, warum er die Bibliothek nicht beschrieb, gibt es keine eindeutige Antwort. Eine Hypothese lautet, dass die Bibliothek als solche nicht erkannt wurde. Strabon arbeitete in ihr, aber da sie kein unabhängiges Gebäude war, sondern Teil des Museums, ließ er sie unerwähnt. Es gab Schriftrollen, welche in den Regalen des Museums für die Forscher griffbereit lagen und andere, welche in angrenzenden Räumen untergebracht waren. Eine andere Hypothese geht davon aus, dass es keine eigenen Räume für die Bibliothek gab. Vielmehr war diese in Ablagen sortiert, welche im Museum untergebracht waren. Die Lesenden nahmen sich die entsprechende Rolle aus der Ablage und lasen sie anschließend beispielsweise in einem hellen Säulengang.

Demgegenüber stehen die persönlichen Texteinschübe von Irene Vallejo. Nach dem Prolog erläutert sie den Lesenden, wie schwer es ihr fiel diesen zu schreiben und einen guten Beginn für ihr Buch zu finden. Diese Einschübe kommen immer wieder vor. Die Lesenden nehmen an einer Kindheitserinnerung, ihrer Erfahrung in Oxford während ihres Forschungsstipendiums oder einfach nur an ihrem Weg zur Arbeit teil. Ergänzt wird dies durch fiktionale Anteile. Aus den Aufzeichnungen von Strabon geht hervor, dass Aristotles der Erste gewesen sei, der Bücher sammelte. Irene Vallejo ergänzt dies durch ihre Vorstellung, wie er über Jahre hinweg Geld ausgab, um diese Bücher erwerben zu können.

Auf den ersten Blick mag sich kein Bücherregal finden, auf das dieses Buch gestellt werden kann. Aber vielleicht ist das auch nicht notwendig. Es verdient seinen eigenen Platz, da es vielen Lesenden etwas zu bieten hat. Es kann das Interesse an der Antike, an der Entwicklung des Alphabets, die Entstehungsgeschichte des Buches oder die Verbindung des Internets zu einer Bibliothek sein, warum dieses Buch gelesen wird. Für einige werden die Informationen ausreichend sein. Für andere, welche sich die Verweise anschauen möchten, gibt es ein umfangreiches Quellenverzeichnis. Für manche dient es als Erinnerung an bereits gelesene Bücher, als Inspiration für das nächste Buch oder den nächsten Film. Somit ist das Experiment von Irene Vallejo gelungen.