Objekt des Monats März 2023 - „Der Reichs-Kanarienvogel“ (1848)

Mit der Entdeckung der bekannten Welt ab der frühen Neuzeit wurde es an Herrscherhöfen und im Adel zunehmend Mode, sich exotische Vögel zu halten. Seit der Eroberung der Kanarischen Inseln durch die Spanier im 15. Jahrhundert brachte man die gleichnamige endemische Vogelart nach Europa, wo sich die Tiere rasch großer Beliebtheit erfreuten und außerhalb ihres angestammten Lebensraums erfolgreich gezüchtet wurden. Ab dem 19. Jahrhundert hielt der unermüdlich zwitschernde Vogel auch vermehrt Einzug in die biedermeierlichen Wohnstuben. Es wundert daher nicht, dass er im Sinne der belehrenden Funktion einer Fabel auch bald von den Karikaturisten aufgegriffen wurde.

Die Karikatur war im restaurativen polizeistaatlichen Überwachungssystem, das seit dem Wiener Kongress 1815 von Fürst Clemens Wenzel von Metternich in den deutschen Ländern herrschte, zum probaten Kommunikationsmittel geworden, um verklausuliert Missstände anzuprangern und Kritik zu üben. Durch den Einsatz von Tiermotiven versuchten die Zeichner und Verleger, die Inhalte zu verharmlosen und so zunächst vor allem die strenge Zensur zu umgehen. Der Bestand „Politische Grafik“ im Stadtarchiv Trier umfasst über 200 Blatt solcher Karikaturen, die größtenteils zwischen 1820 und 1850 entstanden, also aus der Zeitspanne stammen, die uns als Vormärz und Deutscher Revolution bekannt ist. Die Revolutionsereignisse von 1848/49 jähren sich nun zum 175. Mal. In einer Zeit, in der in vielen Ländern wieder autokratisch regiert wird und antidemokratische Tendenzen leider auch hierzulande unverkennbar sind, lohnt der Blick auf die demokratischen Entwicklungen und das erste Parlament, die Frankfurter Nationalversammlung, die am 18. Mai 1848 erstmals zusammentrat.

Das hier als Objekt des Monats vorgestellte Blatt „Der Reichskanarien-Vogel“ entstand indes zu einer Zeit, als die Zensur aufgehoben und die Pressefreiheit in allen Bundesstaaten auf Druck der Öffentlichkeit von der Bundesversammlung am 3. März 1848 eingeführt worden war. Die „Trier‘sche Zeitung“ vom 6. März 1848 berichtete ebenfalls über diese neue Gesetzgebung. Der Spott des Zeichners Alfons von Boddien richtete sich gegen den Abgeordneten Gustav Georg Rösler, einen Schulmeister aus dem schlesischen Kreis Oels, der für seine langweiligen, wenig gehaltvollen Reden nach der Geschäftsordnung bekannt war. Er sitzt als aufgeputzter Vogel personifiziert auf dem äußeren Rand der Rednerkanzel und „Singt wenig – spricht viel – und lebt von Diäten“, wie auf dem Untertitel des Blattes zu lesen ist. Die Eigenarten und Schrullen von Parlamentariern werden in vielen Blättern jener Zeit kritisch aufs Korn genommen und wurden in großen Druckauflagen verbreitet. Das Unverständnis über zu hohe Diäten bei vermeidlich geringer Arbeitsleistung kennt man ja auch aus der heutigen Satire. Damals hatte man jedoch einen besonders hohen Anspruch an die ersten demokratisch gewählten Volksvertreter.

Der für Trier am 10. Mai 1848 in die Nationalversammlung mit 115 von 145 der städtischen und ländlichen Wahlmänner des Wahlkreises Trier II entsandte Abgeordnete Ludwig Simon (1819 – 1872) war ebenfalls Gegenstand karikaturistischer Blätter, dargestellt jedoch zumeist gemeinsam mit anderen Parlamentariern. Anders als Rösler auf dem Kanarienvogel-Blatt genoss Simon indes als Redner und politischer Vordenker höchstes Ansehen. Das Stadtarchiv widmet dieser kurzen, doch für die deutsche Demokratiegeschichte wichtigen Zeitspanne die Ausstellung „Kritischer Geist auf Papier – Druckgrafik zu Vormärz und Deutscher Revolution 1848/49 aus dem Stadtarchiv“, die vom 7. März bis 28. Mai 2023 zu sehen ist. (sfr)

Wissenschaftliche Bibliothek der Stadt Trier / Stadtarchiv, Foyer
Weberbach 25, 54290 Trier
Dienstags - freitags, 9 - 17 Uhr und samstags - sonntags, 10 - 17 Uhr
Eintritt frei

„Der Reichs-Kanarienvogel“ (1848), teilkolorierte Kreidelithographie nach einer Zeichnung von Alfons von Boddien, 30,6 x 22 cm, Verlag: Eduard Gustav May/Frankfurt a. M.; Stadtarchiv Trier, Bestand: Politische Grafik